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Mein Beginn als Führungskraft

Als ich zum ersten mal „Führungskraft“ wurde, war ich mit allerhand neuen Themen konfrontiert. Ich war zwar auf dem Papier der fachliche und disziplinarische Vorgesetzte meiner Mitarbeiter, aber im Kopf noch lange nicht – auch wenn ich damals sicher anderer Meinung war. Dass etwas mehr dazu gehört, als „nur“ Personalgespräche zu führen und Urlaubsanträge zu genehmigen machte mir eine ganz bestimmte Situation bald klar:

Einer meiner Mitarbeiter, nennen wir ihn an dieser Stelle einfach Karl*, kam eines morgens in mein Büro. Ich wünschte ihm einen guten Morgen und fragte, was ich für ihn tun kann. Er sagte nichts und schaute mich für einen Moment nur an. Als ich gerade fragen wollte, was los war, fing er an zu weinen. Er hat einfach nur geweint und resigniert gesagt „Ich kann nicht mehr!“. Ich war total überfordert mit der Situation und wusste zunächst gar nicht, was ich nun tun sollte. Nachdem ich ihn gebeten hatte, sich zu mir zu setzen und er sich einigermaßen beruhigt hatte, fingen wir an über die Themen zu sprechen, die ihn belasteten. Über sein Privatleben und den Druck bei der Arbeit. Er fühlte sich niedergeschlagen und ausgebrannt.

Ich bekam Einblicke in sein Leben. Seine Vergangenheit, seine gegenwärtigen Lebenssituation und in die Themen, die ihn belasteten. Ich fand außerdem heraus, was er in seiner Freizeit (leidenschaftlich und auf hohem Niveau) gerne macht und was ihm Energie gibt. Gemeinsam haben wir über mehrere Gespräche hinweg eine Lösungsidee entwickelt: Karl reduziert seine Arbeitszeit auf 80% und unterrichtet in der gewonnenen Freizeit körperlich benachteiligte Menschen in seinem Lieblingsthema. Parallel dazu sollte er sich in psychologische/psychiatrische Behandlung begeben. Gesagt, getan!

Nach und nach ging es Karl besser. Sowohl Qualität als auch Quantität seiner Arbeitsergebnisse stiegen, er arbeitete konzentrierter und mit mehr Freude. Und ich erkannte dadurch erst das scheinbar Offensichtliche: dass Karl seine Arbeit beim Tritt über die Türschwelle nicht einfach ablegt. Dass Mitarbeiter ein (für die Vorgesetzten meist unbekanntes) Privatleben haben, welches sich auf die Arbeit auswirkt. Und ein Berufsleben, welches sich auf das Privatleben auswirkt. Beides geht nunmal Hand in Hand. Das weiß jeder, der schonmal nachts wach lag und nicht schlafen konnte, weil er über berufliche Themen grübeln musste. Oder jede, die bei der Arbeit geistig nicht bei der Sache war, weil sie über Themen in ihrem Privatleben nachdachte. Die Ursachen von bestimmten Problemen sind nicht immer fest einem der beiden Bereiche zuzuordnen. Die Lösung ebenfalls nicht. Im Beispiel von Karl lag die Lösung in der Reduktion der Arbeitszeit (Business) und der sinnstiftenden Tätigkeit in seiner Freizeit (Life). Hinzu kam die medizinische und therapeutische Behandlung seiner Depression. Alles ging Hand in Hand.

Deshalb unterscheide ich nicht so strikt zwischen Business- und Life-Coaching. Und deshalb ist auch die Frage nach Therapie oder Coaching meiner Meinung nach falsch gestellt. Nicht falsch verstehen: ich maße mir nicht an, ernsthafte psychische Krankheiten zu behandeln. Das darf ich auch gar nicht! Aber die Frage sollte nicht so sehr lauten: „Coaching oder Therapie?“ sondern eher „können Coaching UND Therapie gemeinsam sinnvoll sein?“. Schließlich gibt es auch ein (Berufs-)Leben, während und nachdem die Krankheit erfolgreich behandelt wurde. Die Schwerpunkte und Zielsetzungen von Therapie und Coaching sind einfach unterschiedlich. Und jeder seriöse und gut ausgebildete Coach (worunter ich mich einordne) wird Themen mit krankheitswert erkennen und an fachkundiges Personal aus Psychologie und/oder Psychiatrie verweisen.

Was ich damals mit Karl erlebt habe und unser gemeinsamer Prozess der Lösungsentwicklung war natürlich noch kein Coaching. Aber durchaus die Geburtsstunde so mancher Gedanken, die mich in diese Richtung geführt haben.

Danke Karl – ich hoffe, es geht dir gut!

* Der Name ist natürlich erfunden. Die Geschichte ist wahr.